INTEGRATION

 

Mit Herz und Luftpumpe große Räder drehen.

Mit dem Fahrrad findet jeder seinen Weg. Ganz einfach. Zumindest ganz einfach gedacht. Für Kinder ist das Radfahren beinahe eine Selbstverständlichkeit. Spielend erlernt und dann ab durch die Mitte. Mit Freunden, Geschwistern, Eltern, oder wem auch immer. Das Rad macht mobil.

 

Ein faszinierender Gedanke, geflüchtete Frauen über das Radfahren den Weg in ihre neue Lebenswelt zu ebnen: Selbstvertrauen geben durch neue Fähigkeiten, Erfolgserlebnisse vermitteln, Vertrauen entwickeln durch Gemeinsamkeit, Mobilität schaffen, Berührungsängste abbauen. Ein Video war der Anstoß für die Gründerinnen der „#BIKEYGEES “ in Berlin, ihr Projekt ins Leben zu rufen. Annette und Anne begannen 2015, geflüchteten Frauen das Radfahren beizubringen.

„Wir drohten irgendwann als Papiertiger zu sterben, weil wir zu groß gedacht haben …“

„Annette hatte ein Video gesehen, auf dem eine Frau von zwei anderen angeschoben wurde und dadurch das Radfahren lernte“, erzählt Anne. Warum nicht auch in Berlin? Annette lud wahllos Leute zu einer Facebook-Gruppe ein, die sich für Frauen, Fahrräder, Geflüchtete, Empowerment, Mobilität und ähnliches interessierten. Die Resonanz war riesig – und damit startete nicht nur das mittlerweile ausgesprochen erfolgreiche und prämierte Projekt, sondern auch ein bis heute währender Lernprozess.

 

„Wir drohten irgendwann als Papiertiger zu sterben, weil wir zu groß gedacht haben, und gleich große, etablierte Institutionen an Bord holen wollten, obwohl das komplexe Produkt noch gar nicht fertig war“,
erinnert sich Anne, „Wir mussten uns reduzieren.“

 

Die „#BIKEYGEES “ haben in knapp zwei Jahren viel gelernt über Projektarbeit. Für sie war klar, dass sie ehrenamtlich tätig sein wollten, sie hatten enormen Ehrgeiz, große Ziele und viele Träume. Unter anderem den, das Projekt in andere Bezirke zu tragen und irgendwann auch bundesweit Mitstreiterinnen zu finden. Anne: „Aber finde mal jemanden, der sich das verantwortlich ans Bein binden will.“ Helferinnen in Berlin fanden sie am Anfang ganz schnell. Doch „Helferinnen, die am Anfang enthusiastisch dabei waren, hatten dann plötzlich andere Dinge, die wichtiger waren. Etwa 50 Prozent legten sich fest, langfristig mitzumachen, die anderen waren schnell wieder weg. Aber das ist in Ordnung, denn auch ein einmaliges Helfen kann viel bewirken“.

 

Annette und Anne mussten lernen mit dem Wachstum umzugehen. Heute sind sie stolz auf ihre Zahlen, auf die vielen Trainingseinheiten, die sie durchgeführt haben, auf die vielen Frauen, die das Radfahren gelernt haben, auf die vielen Räder, die sie geflüchteten Frauen übergeben konnten. Sie haben Spenden eingesammelt, sie sind auf Betterplace vertreten, haben Preise und schon drei Förderanträge bewilligt bekommen und ganz viel Zuspruch erfahren.

 

„Jede Frau die auf dem Fahrrad sitzt und irgendwann merkt, dass sie nicht mehr festgehalten wird. Das sind rührselige Momente“, antwortet Anne, nachdem sie bei einer Supervision gefragt worden war, was sie stolz macht. Aber sie hat noch weitere Antworten gefunden: „Anerkennung motiviert einen. Zum Beispiel, wenn signalisiert wird, dass ein Förderantrag vielleicht nicht abgelehnt wird. Oder institutionelle Anerkennung, und auch, dass wir schon über 3.500 organisch gewachsene Likes innerhalb eines Jahres erreicht haben. Das ist auch nicht das Schlechteste.“

Die beiden Bremerinnen haben sich mit dem Erfolg ihres Projektes viele Fragen stellen müssen, an die sie zu Beginn nicht gedacht hatten. Institutionelle Fragen, wie die nach der Gründung eines Vereins, um versichert zu sein, um Förderanträge stellen zu können, um den Weg durch die Institutionen besser gehen zu können. Oder die nach dem Umgang mit Medien und Öffentlichkeit. Nach den ersten erfolgreichen Trainings kamen Anfragen, von lokalen Medien aber auch von CNN. Zuerst steuerten sie die Öffentlichkeitsarbeit über ihr Netzwerk – eine Mitstreiterin verfügte über gute Pressekontakte.

 

Die Folgen einer guten Pressearbeit aber unterschätzten sie. „Wie mit den ganzen E-Mails und Anfragen umgehen? Das waren ja nicht nur Interviewanfragen, es ging um Helfer, die sich meldeten, auch um Forschungsprojekte. Da stellte sich auf einmal die Frage, wo sich der Einsatz lohnt, wo für uns der Return of Investment ist?“

 

Anne zählt mühelos ein Dutzend organisatorischer Fragen auf, die klarmachen, dass die Entwicklung der „#BIKEYGEES“ einen höheren Grad an Professionalisierung verlangte. „Wir stehen an der Schwelle“, sagt sie, „am Anfang sind wir mit der Luftpumpe wedelnd und Radfahrbewegungen gestikulierend durch die Notunterkünfte für Geflüchtete gezogen und haben Frauen angesprochen. Mittlerweile haben wir feste Plätze und Zeiten, bieten professionelle Trainings für fremde Einrichtungen an und diskutieren über eine Entlohnung für die Helferinnen, die zum festen Stamm gehören.“

 

Was die Organisationsstrukturen betrifft, hatten die beiden Gründerinnen von Beginn an klare Vorstellungen.
„Die haben wir auch jetzt noch. Da liegt das Heft klar in unserer Hand“, sagt Anne. Sie sagt aber auch: „Wir waren schon auch überfordert. Bei einem Vortrag von mir, wie man am besten so ein Projekt managen kann, ohne Burnout zu erleiden, haben Annette und ich anschließend gefeilscht, weil jede von uns eine andere Reflektion zu dem Projekt hatte. Manchmal diskutieren wir auch heftig, weil wir unterschiedliche Vorstellungen von Professionalisierung haben. Man muss sich offen die Frage stellen, wie man sich nicht innerhalb deines eigenen Projektes verschleißt.“

 

Ihr Engagement, ihr offener Umgang mit den Fragestellungen zur Zukunft ihres Projektes, haben es reifen lassen. Die Frauen, mit denen sie arbeiten, ob Mitstreiterinnen oder die, die einfach nur Radfahren wollen, beweisen durch ihre Anerkennung und Einsatz, dass Annette und Anne den richtigen Weg eingeschlagen haben. Das registrieren die beiden mit Stolz, aber auch mit ein wenig Wehmut. Sie müssen sich entscheiden. Anne: „Ohne Geld können wir es langfristig nicht stemmen, ohne uns völlig aufzugeben. Dann gibt es eben nur noch ein Training pro Monat, zu dem dann 200 Leute kommen.“

 

Und dann spielt natürlich auch noch das Herz eine Rolle. Im Juni fand in Berlin das erste Training ohne Anne und Annette statt, geleitet nur von ihren Mitstreiterinnen. „Man muss das Baby auch mal loslassen“, stellt Anne fest, „aber das ist uns sehr schwer gefallen.“.

Autor

Gerd Graus

Projekt

#BIKEYGEES e.V.

Ort: Berlin

Thema: Integration, Mobilität

Gründung: 2015

Ansprechpartner: Annette Krüger

Vorsitzende

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