Foto: Cedric Flege
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Die Übung beginnt etwas zögerlich, nicht jeder hat seine Position sofort gefunden. Doch es dauert nicht lange, dann wandert der Ball zielgenau von einer Hand zur anderen. Jeder der Teilnehmer ist mit viel Eifer bei der Sache. Es geht bei dieser Übung darum, die Lauf- und Passwege am Kreis zu verinnerlichen. Dass da mal ein Wurf nicht direkt sein Ziel findet, ist ganz normal. Überhaupt wirkt diese Trainingseinheit auf den ersten Blick nicht gerade besonders. Diese Tatsache sorgt bei Martin Wild für ein Lächeln. „Es ist unser Ziel, dass man gar nicht mehr erkennt, wer ein Handicap hat und wer nicht“, sagt der Handball-Coach.
Wild steht an diesem Samstagvormittag als Trainer des SV Eidelstedt in der Sporthalle und beobachtet das Tun seiner Schützlinge. Das Engagement des 36-Jährigen beschränkt sich aber nicht nur auf die Arbeit mit den Aktiven, Wild ist auch erster Vorsitzender von Freiwurf Hamburg. Der Verein versteht sich als zentraler Knotenpunkt für inklusiven Handball in und um die Hansestadt. Inklusion bedeutet hier, dass Menschen mit und ohne Behinderung gemeinsam und auf Augenhöhe Sport treiben. Entstanden ist aus dieser Idee etwas bislang Einmaliges: die erste offiziell anerkannte inklusive Handball-Liga in Deutschland. Schon seit vier Jahren spielen hier Menschen mit und ohne Handicap gegeneinander, vor allem aber miteinander Handball.
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In dieser Zeit ist die Liga kontinuierlich gewachsen. Jede Saison kam ein neuer Verein hinzu, sodass inzwischen fünf Sportvereine mit acht Mannschaften und rund 100 Sportlerinnen und Sportlern am Spielbetrieb teilnehmen. Neben dem SV Eidelstedt sind das der AMTV Hamburg, das Elmshorner HT, der FC St. Pauli und die SG Wilhelmsburg. Und Martin Wild ist guter Dinge, dass in der Zukunft noch mehr Vereine dazukommen werden. „Wir möchten, dass sich möglichst viele Sportvereine dem Thema Inklusion annehmen, und zwar direkt in der entsprechenden Fachabteilung“, erklärt der erste Vorsitzende. Freiwurf Hamburg liefert dafür den Anschub. „Wir helfen den Handball-Abteilungen ganz gezielt beim Einstieg in dieses Thema und führen sie an die Sache heran. Die Eingangshürde soll für sie möglichst klein sein.“
Mit ihrer Arbeit wollen Wild und seine Mitstreiter immer mehr Sportvereine in Hamburg dazu anstiften, inklusive Handball-Teams aufzubauen und in der Freiwurf Hamburg Liga zu melden. Auf diese Weise soll das Thema Inklusion im Regelsport und in den etablierten Sportstrukturen nachhaltig verankert werden. Deshalb ist es Wild wichtig, dass die inklusiven Handballmannschaften direkt in die entsprechende Abteilung eingebunden sind. Bei Freiwurf Hamburg versteht sich ohnehin niemand als etwas Besonderes: „Wir sind alle Handballer, das ist unser gemeinsamer Nenner“, erklärt der erste Vorsitzende. „Wir wollen nicht, dass die Behinderung immer so im Vordergrund steht.“ Mit dieser Idee trifft Wild häufig auch auf Skepsis, doch die ist meist schnell ausgeräumt: „Wenn Leute sich das schwierig vorstellen, lassen wir sie einfach mal bei uns mitspielen. Nach zehn Minuten haben die das schon gar nicht mehr im Blick, dass das ein Behinderter ist. Dann ist das nur noch mein Halbrechter oder mein Kreisspieler. Man denkt gar nicht mehr an die Behinderung, und genau darum geht es.“
Auch in der Sporthalle der Julius-Leber Schule in Hamburg-Schnelsen scheint an diesem Vormittag niemand über Behinderungen nachzudenken. Inzwischen wird auf dem Feld gespielt. Das gehört auch bei den beiden inklusiven Handballmannschaften des SVE in jedem Training dazu. Martin Wild schaut sich das Ganze sehr entspannt von der Seitenlinie an. Eingreifen müssen er und Trainerkollegin Stephanie Schultz fast gar nicht. Auf dem Parkett weiß jeder, was zu tun ist. Versprungene Bälle oder etwas zu zahme Torabschlüsse gehören dazu, sorgen hier aber bei keinem der Teilnehmer für Unmut. Stolz ist Wild darauf, dass ein Spieler mit Handicap das Trainingsspiel leitet – und das sehr souverän. „Beim AMTV haben zwei Spieler mit Behinderung auch erfolgreich die Schiedsrichterprüfung abgelegt“, erzählt der SVE-Trainer. „Sie durften dann im Jugendbereich Spiele pfeifen und haben das auch sehr gut gemacht.“
In ihrer eigenen Liga spielen die inklusiven Mannschaften von Freiwurf Hamburg nach den offiziellen Regeln des Deutschen Handballbundes (DHB). „Wir wollten nichts Besonders oder Exklusives sein. Wir wollten Handballer sein und auch wie Handballer behandelt werden“, sagt Wild. „Deshalb haben wir den DHB relativ früh mit an Bord geholt und uns mit den Experten vom Verband immer wieder getroffen, um am Regelwerk zu arbeiten. Denn wir mussten an bestimmten Stellen schon vom normalen Regelwerk abweichen.“ Dabei herausgekommen sind Rahmenrichtlinien für den inklusiven Handball in Deutschland, die vom DHB ganz offiziell verabschiedet wurden. Sie machen die Freiwurf Hamburg Liga zur ersten offiziell anerkannte inklusiven Handball-Liga in Deutschland.
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Zu den Abweichungen im Regelwerk gehört beispielsweise die Vier-Tore-Regel. So darf in der inklusiven Liga jeder Spieler in einer Partie maximal vier Treffer erzielen. Dadurch sollen im Verlauf eines Spiels alle Akteure zum Zug kommen. Das zweite Beispiel verdeutlicht, wie sich Freiwurf Hamburg immer wieder auf besondere Situationen einstellt, mit dem Ziel, dass möglichst jeder teilnehmen kann. „Einer der Vereine hat momentan eine Rollstuhlfahrerin. Nach DHB-Regelwerk ist das eigentlich nicht möglich, weil es ein Gegenstand auf dem Spielfeld ist, von dem Verletzungsgefahr für die anderen Spieler ausgeht“, erklärt Wild. „Deshalb haben wir dort eine Sonderregel geschaffen.“ Die besagt, dass die Rollstuhlfahrerin immer gegen einen anderen Rollstuhlfahrer spielt, den der Gegner stellt. Außerdem wird das Spielfeld in eine Fußgänger- und eine Rollstuhlzone geteilt, solange sie auf dem Feld ist.
Natürlich gebe es auch Grenzen, sagt Wild. „Aber erst mal geben wir jedem die Chance und versuchen es möglich zu machen, dass er bei uns teilnehmen kann.“ Der 36-Jährige ist auch immer bemüht, nicht behinderte Sportler für das Projekt zu begeistern. Die Beteiligung ist phasenweise mal besser und mal schlechter. Aktuell hat etwas mehr als ein Viertel der Teilnehmer keine Behinderung. Darunter sind auch einige Spieler, die erst sehr spät mit dem Handball angefangen haben. Für solche Quereinsteiger ist Freiwurf Hamburg perfekt. Sie lernen das Spiel hier von Grund auf, ohne dabei den anderen nur hinterher zu laufen. Mit einem höheren Alter sei das woanders gar nicht möglich, erklärt Wild.
Einer dieser Quereinsteiger steht jetzt an der Linie. Zum Abschluss des heutigen Trainings werden Siebenmeter geworfen. Hermann Zumach fackelt nicht lange und setzt den Ball in die Maschen. Als der 67-Jährige im Anschluss zur Seitenlinie kommt, gönnt er sich erst mal einen Schluck Wasser. „Eigentlich mochte ich Handball gar nicht. Hätte man mir früher eine Liste mit zehn Sportarten gegeben, hätte ich Handball als Letztes genommen“, erzählt er mit einem leichten Schmunzeln. Zumach ist mit einem schwerstbehinderten älteren Bruder groß geworden, machte also schon früh Erfahrungen mit dem Thema Behinderung. Mit dem Handball war das anders. Erst im Alter von 62 Jahren fing er an, hier bei Freiwurf Hamburg. Zuvor hatte er beim Aufbau des Projektes mitgewirkt. Irgendwann lag dann der Gedanke nahe, selbst mitzuspielen.
„Ich könnte nirgendwo so Handball spielen wie hier“, sagt Zumach. Der zweite Vorsitzende von Freiwurf Hamburg hat nicht nur spät mit dem Spielen begonnen, im vergangenen Jahr wurden bei ihm auch Knie und Schulter operiert. „Dadurch habe ich auch eine Art Handicap“, erklärt der 67-Jährige. „Hier kann ich trotzdem gut mithalten und es gibt auch keine dummen Sprüche.“ Zumach und den anderen Quer- oder auch Wiedereinsteigern kommt zugute, dass das Niveau bei Freiwurf Hamburg natürlich niedriger ist als in anderen Handballteams. Die Übungen im Training kommen meist aus dem Jugendhandball und müssen in der Regel auch einmal mehr wiederholt werden. Anspruch ist es aber immer, ein richtiges Handballtraining anzubieten. Da legen alle beteiligten Vereine großen Wert drauf.
Auch Martin Wild ist das sehr wichtig. Er steht inzwischen in der Mitte der Sporthalle und hat seine Spieler um sich versammelt. Der Trainer hält noch eine kurze Ansprache. Es geht um das kommende Wochenende. An dem haben seine beiden Mannschaften noch spielfrei. In zwei Wochen stehen dann aber auch für sie die nächsten Spiele in der Freiwurf Hamburg Liga an. Eine gewisse Vorfreude darauf ist schon spürbar. Da sind die inklusiven Spieler des SVE genau wie alle anderen Handballer: Spiele sind immer besser als Training.
Autor
Projekt
Ort: Hamburg
Thema: Inklusion
Gründung: 2012
Ansprechpartner: Martin Wild
1. Vorsitzender
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