RESILIENZ
Gaziantep im Südosten der Türkei zwei Monate nach den verheerenden Erdbeben des 6. Februar. Die Trümmer der zerstörten Gebäude im Stadtzentrum sind größtenteils weggeräumt. Hin und wieder sind kleinere Nachbeben zu spüren. Langsam kehrt das Leben zurück in die Stadt und die Zahl der Schüler:innen in der lokalen Kampfsportschule von Martial Arts for Peace nimmt wieder zu. Die Traumabewältigung auf individueller und auf gesellschaftlicher Ebene wird jedoch noch lange Zeit dauern. Lauf UNICEF sind 850.000 Kinder im Erdbebengebiet obdachlos. Sie müssen mit ihren Familien in Notunterkünften und Zeltlagern ausharren und mit dem Verlust von Freund:innen und Familienmitgliedern umgehen. Viele Kinder stehen unter Schock und sind durch das Erlebte traumatisiert.
Resilienz ist die Fähigkeit, schwierige Lebenssituationen zu bewältigen und gestärkt daraus hervorzugehen. Es geht darum, widerstandsfähig zu sein und auch in Krisensituationen handlungsfähig zu bleiben. Martial Arts for Peace fördert die Resilienz bei Kindern und Jugendlichen durch regelmäßiges Kampfsporttraining. Durch das Erlernen körperlicher Techniken und die Überwindung von Schmerzen wird die Belastbarkeit und Ausdauer gestärkt. Gleichzeitig wird das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten gestärkt und eine positive Einstellung entwickelt, die bei der Bewältigung von Herausforderungen hilfreich sein kann. In der Arbeit mit von den Erdbeben betroffenen Zielgruppen in der Region kann das Training dazu beitragen, Traumata zu überwinden und wieder selbstbewusster und widerstandsfähiger zu werden.
Jasmin Dirinpur war vor Ort in Gaziantep in der 9. Etage eines Wohngebäudes mit 13 Stockwerken als um 04:17 morgens die Erde gleich zwei Mal hintereinander bebte. Das Epizentrum des ersten Bebens war nur wenige Kilometer entfernt. Die Erschütterungen waren derart stark und von langer Dauer, dass auch sie für einen kurzen Moment dachte sie würde diese nicht überleben. Sie konnte sich in Sicherheit bringen und blieb unverletzt. Mit der Zeit wurde das Ausmaß der Katastrophe immer deutlicher. Unzählige Gebäude sind entweder komplett eingestürzt oder haben irreparable Schäden genommen. Es sind harte und traurige Zeiten für die Menschen in den betroffenenen Regionen, die flächenmäßig etwa zwei Drittel der Größe der Bundesrepublik Deutschland entspricht. Menschen, von denen einige derart viele Angehörige und Freunde unter den Trümmern verloren haben, dass sie wie es jemand ausdrückte „gar nicht wissen, wen sie vermissen sollen.“
Die Gründungsgeschichte von Martial Arts for Peace gemeinnützige GmbH beginnt in Gaziantep mit einem Workshop im Jahr 2018. Die Mitgründer:innen Natalia Grybos und Martin Minarik waren vor Ort an der türkisch-syrischen Grenze, um im Auftrag des Deutschen Olympischen Sportbunds (DOSB) Karate und Taekwondo Workshops für Trainer:innen aus Flüchtlingseinrichtungen und aufnehmenden Gemeinden zu moderieren. Dabei sollte den Teilnehmenden das sozialpädagogische Potenzial von Kampfsport sowie konkrete Methoden der Trainingsgestaltung vermittelt werden.
Jasmin Dirinpur war zu dem Zeitpunkt als Mitarbeiterin des Bildungsprogramms der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) GmbH am Standort in Gaziantep u.a. für die Kooperation mit dem DOSB verantwortlich. Sie hatte die Idee eine Nichtregierungsorganisation zu gründen, die Trainer:innen eine Plattform für den Wissens- und Erfahrungsaustausch bietet und sie dabei unterstützt gemeinsam größere Zielgruppen zu erreichen und nachhaltig zu wirken. Mit Martin Minarik, Natalia Grybos, und Ömer Tibik holte sie drei aktive und erfahrene Kampfsportler:innen als Gesellschafter:innen mit an Board. Das Gründerteam eint die Leidenschaft für „Sport-für-Entwicklung“ im Allgemeinen und die Überzeugung bezüglich des Potenzials des Kampfsports, Menschen in schwierigen Lebenssituationen zu unterstützen und Ihnen dabei zu helfen, ihre Stärken zu entdecken und zu entwickeln.
Die Gründer*innen in Aktion: Natalia beim Sparring mit Schüler:innen des syrischen Karate Trainers Mousa El Ahmet in Gaziantep.
Martin während seines Forschungsaufenthalts mit UNESCO ICM in Chungju Südkorea.
Ömer bei einem Kampfkunstraining mit Menschen mit Behinderungen.
Jasmin (2. von links) in einer Diskussionsrunde mit Expert*innen zum Thema „Sport-für-Entwicklung“
Der Ansatz von Martial Arts for Peace basiert auf der transformatorischen Bildungstheorie. Demnach verändert sich der Mensch durch Erfahrungen aus verschiedenen Lebens- und Bildungsprozessen. Diese Veränderungen können zunächst in unterschiedliche Richtungen einschlagen.
Mithilfe kampfsportspezifischer Bewegungspraktiken fördert Martial Arts for Peace die Friedensfähigkeit von Kindern und Jugendlichen. Wichtig sind dabei die Körpererfahrung, Sinneswahrnehmung, Selbstreflexion und Interaktion. Durch das systematische Einüben bestimmter Bewegungsabfolgen kann prozesshaft eine Reihe von nachhaltig transformierten Werten und Haltungen entwickelt werden.
Weder Kampfsport noch Bildung wirken von sich aus friedensstiftend. Vielmehr muss eine friedensfördernde Inszenierung des Bewegungssettings und ihrer Versprachlichung sichergestellt werden.
Folgende ästhetische Bildungspotenziale werden dabei genutzt:
Die Wahrnehmung seiner selbst als auch des Gegenübers im Bewegungsvollzug erfolgt stets innerhalb unserer friedenspädagogischen Rahmung. Dieser lehnt Gewalt als Lösung für Konflikte ab und setzt auf die Identifikation von Konfliktursachen und auf den Aufbau von Kompetenzen, die eine friedliche Lösung herbeiführen.
Bisher lag der regionale Schwerpunkt der Arbeit insbesondere auf den Südosten der Türkei. Dort hat Martial Arts for Peace ein Netzwerk aus türkischen und syrischen Trainer:innen unterschiedlicher Kampfsportdisziplinen aufgebaut. Seit der Gründung hat sich die Nichtregierungorganisation kontinierlich weiterentwickelt und konnte bereits viele Kinder und Jugendliche in schwierigen Lebenssituationen unterstützen. Das Programmangebot beinhaltet auch Selbstverteidigungskurse für Frauen, innovative neuere Sportarten wie Schachboxen, und Kampfsportunterricht für Menschen mit Behinderungen.
Ein wichtiger Meilenstein in der Organisationsentwicklung war die erfolgreiche Ausrichtung der Martial Arts Open School im August 2022 im Auftrag von UNESCO International Center for Martial Arts (ICM) und die anschließende Unterzeichnung eines Memorandum of Understanding hinsichtlich einer langristigen Kooperation mit dem strategisch wichtigen Partner aus Südkorea, der eine ähnliche Vision teilt.
Mithilfe von finanzieller Unterstützung durch die Deutsch-Türkische Jugendbrücke konnten Brückenbildungsprojekte zwischen Türkischen und Deutschen Trainer:innen umgesetzt werden. Dabei wurden über den Austausch von sportspezifischem Fachwissen hinaus kulturelle Barrieren abgebaut und Verständnis und Empathie zwischen verschiedenen Gruppen gefördert. Martial Arts for Peace möchte diese Verbindungen und insbesondere auch das Netzwerk und Programm in Deutschland ausbauen und stärken, um noch mehr Menschen zu erreichen und positive Veränderungen zu bewirken. Dafür ist es auch weiterhin notwendig, finanzielle Unterstützung zu erhalten, sei es durch öffentliche Fördermittel, Stiftungen oder private Spenden.
Projekt
Ort: Frankfurt am Main, Gaziantep
Thema: Resilienz, Friedensförderung
Gründung: 2019
Ansprechpartnerin: Jasmin Dirinpur
Geschäftsführung
Website
Autorin
Jasmin verfügt über mehr als 10 Jahre Erfahrung in der internationalen Zusammenarbeit und im Entwicklungssektor.
In ihrer Funktion als Beraterin und Umsetzungsverantwortliche bei der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) GmbH hat sie erfolgreich Projekte und Fördermittel verwaltet, einschließlich der Kofinanzierung durch externe Entwicklungspartner (z.B. DFID).
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