JUGENDARBEIT
Gustavo Rojas, genannt Nacho, ist ein freundlicher Mann. Wenn die Kinder und Jugendlichen in die Sporthalle laufen, klatscht er jeden einzeln ab, zeigt sein breites Weiße-Zähne-Lächeln und klopft viele Schultern. Nur eines kann Gustavo nicht so gut leiden. Wenn jemand sagt: „Das kann ich nicht.“ Dann wird der 36-Jährige ernst, weitet seine dunklen Augen und erhebt den Zeigefingen. „Das ist nicht richtig“, sagt er dann. „Du kannst es NOCH nicht.“ Und dann lacht er wieder. Warm und herzlich. Und schiebt nach: „Es gibt für alles einen Weg.“
Willkommen bei Porto Seguro – Hafen Capoeira. Gemeinsam mit Luisa Gräve hat der gebürtige Mexikaner aus Puebla den Verein Ende 2016 gegründet, das Duo unterweist seitdem als Trainer die Kinder in Capoeira, eine Mischung aus Kampf, Kunst und Tanz. Afrikanische Sklaven in Brasilien entwickelten Capoeira vor Jahrhunderten als kulturelle und körperliche Ausdrucksform, Selbstverteidigung und Mittel gegen die Unterdrückung. Seitdem lebt diese besondere Mixtur der Bewegung in immer neuen Formen weiter und hat sich über den Globus verteilt. Einen echten Boom erlebte Capoeira, als 1993 der Film „Only the Strong“ in den Kinos lief und US-Schauspieler Mark Dacascos über die Leinwand flog. „Wir waren alle total begeistert“, erinnert sich Gustavo heute. „Danach gab es kein Zurück mehr.“
Mittlerweile stehen die 15 Kinder zwischen sieben und zwölf Jahren in einem Kreis in der Mitte der Halle, darunter hellhäutige Jungen mit einem DFB-Trikot und dunkelhäutige Mädchen mit roten Glitzer-Herzen auf dem T-Shirt. Zusammen klatschen und singen sie zum Rhythmus des Berimbau – einem einfachen Holzinstrument in der Form eines Bogens, auf dessen Saite Gustavo seinen Bogen schlägt. Es gibt eine Handvoll Kurse in diversen Hallen in Hamburg, vor allem aber auch Workshops zum Beispiel im Rahmen des Projekts „Weichenstellung“ der ZEIT-Stiftung, für internationale Vorbereitungsklassen und für Kinder und Jugendliche in Flüchtlingsunterkünften. Denn: „Capoeira ist nicht nur Akrobatik, Flexibilität und Schnelligkeit“, sagt Luisa. „Capoeira kann viel mehr.“
Deswegen haben sie die Methodik der„Integrativen Capoeira“ entwickelt. „Wir haben Capoeira verknüpft mit Elementen der Integration, Inklusion, Diversität und Interkulturalität“, so Luisa, die hier nur „Pezinho“ genannt wird, „Füßchen“. Schließlich hat hier jeder einen Spitznamen, eine Eigenart unter den Capoeiristas. Früher hieß Luisa „Pé vermelho“, roter Fuß, weil ihre Füße beim Wirbeln und Drehen rot anliefen. Aber das ist lange her. Ihr Capoeira-Virus holte sich die 37-Jährige vor 14 Jahren beim Uni-Sport. „Ich hatte noch nie zuvor so viel Leidenschaft für etwas“, sagt sie. Und das sieht man in ihren Augen.
Während Gustavo hauptberuflich für den Verein arbeitet, bekleidet Luisa eine Teilzeitstelle. Mit dem anderen Job-Bein ist sie Lerncoach und versucht, die Erfahrungen in beiden Welten miteinander zu verbinden und zu befruchten. „Es geht uns in unserer Arbeit um die Vermittlung von Werten“, sagt sie. „Und das Übertragen aufs Leben.“ Förderung der sozialen Kompetenz, Gemeinschaftssinn, das Verhalten in einer Gruppe, Offenheit für andere Kulturen und individuelle Eigenschaften – all das wollen sie mithilfe von Capoeira schulen. „In der Arbeit mit den Flüchtlingen gelingt es uns so zum Beispiel, die Aggressivität in den Griff zu bekommen und den Kindern innere Stärke mit auf den Weg zu geben.“
Und nicht nur dort. „Stimmt irgendwie“, sagt Vento. Er muss es wissen, denn der 10-Jährige ist seit zweieinhalb Jahren dabei. Er mag die Sprünge, die Drehungen, die Geschicklichkeit. Und sonst? „Wenn ich in der Schule etwas präsentieren muss, habe ich keine Angst mehr“, sagt der Junge mit afrikanischen Wurzeln. „Ich fühle mich irgendwie stärker.“ Dieses „irgendwie“ kommt nicht von ungefähr. „Wenn die Kinder bei uns hinfallen, dann sagen wir Ihnen: Fallen gehört dazu – wie im Leben. Du musst nur wieder aufstehen und weitermachen“, sagt Luisa. „Wir verpacken unsere Botschaften immer in kleine Geschichten, damit sie verstanden werden.“
Außerdem sei es wichtig, dass die kleinen Capoeiristas in sich hineinhören, „um ihre Selbstwahrnehmung zu schulen“. Am Anfang eines jeden Kurses fragen Luisa und Gustavo daher, wie es den Teilnehmern gehe und ob sie müde oder verletzt seien, was sie beschäftige. Die Lehre: Ich habe Verantwortung für meinen eigenen Körper und achte auf seine Signale. Bei Einschränkungen finden wir eine Lösung, wie ich trotzdem am Training teilnehmen kann – oder ich mache mal eine Pause. Darüber hinaus kann ich über meine Gefühle und Empfindungen offen reden, kann sie zulassen als etwas, das wichtig ist und zu mir gehört.
Bereits nach einem Jahr des Bestehens kommen mittlerweile Organisationen wie Caritas, Behörden oder Schulen auf sie zu, um die beiden mit ihrem besonderen Konzept natürlich gegen Honorar zu engagieren. Man hat dort Vertrauen in das Konzept und in die Professionalität, schließlich haben die beiden Kraftpakte Lizenzen des Hamburger Sportbundes und des Deutschen Olympischen Sportbundes (D.O.S.B.). Und dabei belassen sie es nicht. „Wir bilden uns stetig weiter“, sagt Luisa, „wir sind immer auf der Suche, was wir noch in unser Konzept integrieren können.“
Porto Seguro ist also nicht nur ein sicherer Hafen, sondern ein Verein in Bewegung. Nach der reibungslosen Gründung bestehe nun die nächste Herausforderung darin, „den Verein zu konsolidieren und Strukturen einzuführen“, sagt Luisa. Dazu gehöre mittelfristig die Ausbildung von weiteren Trainern aus dem eigenen Nachwuchs und die Weichen zu stellen, ihr Programm vielleicht eines Tages auch in anderen Städten anzubieten. Wenn Gustavo die Augen schließt und fünf Jahre in die Zukunft blickt, dann tauchen Bilder auf. „Ich sehe eine eigene Halle“, sagt der studierte Diplomkaufmann. „Mit einem Logo von uns über dem Eingang. An der Wand hängen Instrumente und Bilder der Kinder. Und natürlich feiern wir Feste.“
Die Stunde ist mittlerweile um, das Radschlagen, Handstand machen und Springen ist vorüber, die Kinder kommen wieder in der Mitte zusammen. Ein letztes Mal wird gesungen und geklatscht, ehe es wieder in den Alltag geht. Ein Alltag, der durch das Engagement von Luisa und Gustavo ein wenig leichter zu bewältigen ist. Und vielleicht so gut schmeckt wie ein Nacho.
Autor
Projekt
Ort: Hamburg
Thema: Integrative Capoeira
Gründung: 2016
Ansprechpartner: Gustavo Rojas
(1. Vorsitzender)
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